GUTER WEIN LÄSST SICH NICHT DIGITALISIEREN

Mein Bruder ist Ingenieur. Als wir neulich zusammensaßen, prophezeite er mir: Die Digitalisierung der Produktionsprozesse wird irgendwann dazu führen, dass man zu einem abstrus niedrigen Preis einen irrsinnig guten Wein machen wird. An den verschiedensten Orten der Welt. Einfach weil man alle Produktionsparameter und die Kosten im Griff haben wird. Die Frage in meinem Kopf: Wen wird das interessieren? Haben wir denn heute noch keine synthetischen Drinks oder noch einfacher: Psychopharmaka? Die Industrialisierung der Landwirtschaft und der Lebensmittelproduktion ist weit fortgeschritten. Der perfekte Designerwein wird schon heute tausendfach für den Geschmack der potentesten Kundengruppe gestaltet. Und in der Spitzenküche werden mittlerweile Elemente aus dem 3 D-Drucker verarbeitet. Eigentlich ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis dieses Design und diese Technologie im Discount ankommt. Und zwar zusammen mit der passenden Hochglanz-Geschichte. Für mich sind diese Lebensmittel so interessant wie das perfekte, südamerikanische Rinderfilet oder der optimale Zuchtlachs. Wir alle kennen den Preis und damit meine ich nicht den zu niedrigen Kaufpreis. Und überall auf dem Planeten sind diese Produkte gleich. Aber wenn mir ein befreundeter Rinder-Züchter erklärt, dass das Fleisch seiner Tiere ungewöhnlich mager ist, weil die Tiere sich eben immer auf der Weide bewegen. Dann hat das Fleisch für mich eine neue Qualität, obwohl es nicht perfekt marmoriert ist. Die Äpfel von der Streuobstwiese sind oft weit entfernt vom idealen Apfel. Aber die Früchte von jedem einzelnen Baum unterscheiden sich von den benachbarten. Die Freude an selbst gesammelten Pilzen oder Beeren lässt sich durch kein perfektes Produkt vom Großmarkt ersetzen. Und so ist es auch mit Wein – da gibt es kein Ideal mit den optimalen Produktionsparametern. Jede Region, jeder Weinberg soll anders sein – der Wein soll mir vom Wetter und der Philosophie seines Winzers erzählen. Ich als Weintrinker muss diese Kleinteiligkeit gar nicht als Ganzes begreifen. Das ist die Aufgabe des Sommeliers oder anderer Weinfachleute. Ich brauche nur ein bisschen Sensibilität und Offenheit – und wenn mir mal etwas besonders gut gefällt, dann versuche ich mir das zu merken. Dieser Reichtum an Facetten ist für mich das Wesen von gutem Wein. Darauf kann man keine große Superwein-Marken aufbauen – auf welches Geschmacksziel sollte der Algorithmus denn bitteschön optimieren? (Text © by Dr. Martin Tesch | Artwork © by Raik Hölzel)